Das Herbst Scharnier ist eines der gängigsten Behandlungsgeräte. Es wurde erstmals von Emil Herbst in den Anfängen des 19. Jahrhunderts publiziert. Nach seiner Einführung durch seinen Entwickler geriet es jahrzehntelang in Vergessenheit, bevor es in den späten 70er Jahren durch Pancherz et al. aus der Mottenkiste geholt und wieder salonfähig gemacht wurde. Es dient als das Behandlungsgerät der Unterkieferrücklage.
Vorverlagerung des Unterkiefers mit dem Herbstscharnier
Simulation der Herbstscharniereinstellung
Zur besseren Vorstellung der Position des Unterkiefers bewegen Sie den Unterkiefer nach vorne, ohne den Biss zu öffnen, bis sich ein Kantbiss einstellt. Nun versuchen Sie diese Position des Unterkiefers einige Zeit zu halten.
Nach kurzer Zeit merken Sie, dass diese Unterkieferstellung nicht entspannend ist. Man merkt den Muskelzug nach hinten. Der Unterkiefer möchte die Ursprungsposition wieder einnehmen.
Diese Muskelspannung, die Sie durch diese Vorschubstellung erzeugt haben, dient nun zur Zahn- und Kieferbewegung. Die eigene Muskelkraft bewegt die Oberkieferseitzähne nach hinten und die Unterkieferseitzähne nach vorne.
Horizontale Kondylenbahnneigung (HKN)
Außerdem fällt Ihnen auf, dass sich in der Vorschubstellung die großen Backenzähne im Seitzahnbereich nicht mehr berühren. Dies ist ein bei der Vorschubbewegung normaler Vorgang. Man spricht von der “horizonalen Kondylenbahnnneigung (HKN)”; die obere Kiefergelenkfläche der Schädelbasis ist nicht horizontal sondern nach vorne unten geneigt.
Öffnungsbewegung des Kiefergelenkes
Die Bewegung der Kiefergelenksöffnung beginnt mit einer reinen Rotationsbewegung bis in etwa 1 cm Mundöffnung. Darüberhinaus führt die weitere Mundöffnung zu einer Wanderung des Kiefergelenkssköpfchens entlang der HKN nach vorne und unten. Ein offener Biss im Seitzahnbereich resultiert. Hier sehen Sie eine Darstellung.
Der offene Biss im Seitzahnbereich führt in den ersten Tagen zu einer Einschränkung. Härtere Nahrungsbestandteile können dadurch nicht gekaut werden, lediglich Abbeißen ist möglich.
Nach einiger Zeit schließt sich der offene Biss im Seitzahnbereich durch die Zähne selbständig, die Nahrungsaufnahme wird wieder leichter und die Vorschubstellung des Unterkiefers ist dadurch fixiert.
Orthodontisches Funktionsprinzip Herbstscharnier
Die Distanz zwischen Oberkiefermolaren und Unterkiefereckzahn kann durch diverse Bewegungen vergrößert werden, jedoch nicht verkleinert werden. Dies wird möglich gemacht durch eine teleskopartige Steckverbindung.
Fixierung des oberen Teleskopbestandteiles (Sleeve)
Im Oberkiefer ist das Teleskoprohr mittels eines Kugelkopfgelenkes am Band der ersten Molaren befestigt. Diese Verbindung ist durch den Patienten selbständig durchführbar. Richtig eingehängt, kann sich das sogenannte “Sleeve” nicht von selbst aushängen.
Wie hängt man das Sleeve ein?
Das Sleeve ist der aktive Teleskopteil im Oberkiefer. Jeder Patient benötigt eine eine individuelle Einstellung seiner Vorschubposition und daher immer beidseits die individuelle Länge des Sleeve.
Jedes Sleeve hat eine äußere “O” Seite und eine innere “U” Seite. Die O (=äußere) Seite des Sleeves wird an den Kugelkopf im 90° Winkel herangeführt und über die Kugel geführt, bis ein Klickgeräusch hörbar ist. Dann wird das Sleeve nach vorne geschwenkt, sodaß die “O” Seite sichtbar bleibt.
Untere Teleskopgabel (Rod)
Wenn das Sleeve korrekt eingehängt wurde, dann kommt das zweite aktive und bewegliche Teil des Herbstscharnieres – das Rod.
Das Rod (Stange mit Gabel) wird in das Sleeve eingeführt und im Anschluss mittels einer Zange oder Fingern auf den Bolzen im Unterkiefer gesteckt. Erneut ist ein Klick zu hören. Wenn das Rod nun auf beiden Seiten im Unterkieferbolzen eingerastet ist sollte bei richtiger Einstellung ein frontaler Kantbiss mit korrekter Mittellinie zu sehen sein.
Früher mittels Schraubverbindung
In früheren Modellen des Herbst Scharnieres wurden die Oberkiefergleitrohre mittels Schrauben an Ober- und Unterkiefermolarenbändern fixiert. Dies hatte eine entsprechende Einschränkung der Bewegungsfreiheit bei Mundöffnung und Nahrungsaufnahme zur Folge.
Es kam desweiteren oft zu unkontrollierten Schraubenverlusten infolge einer Lockerung des Schraubensitzes. Der vielleicht wichtigste Punkt, der gegen diese Art der Befestigung spricht, ist die Tatsache, dass ein achsengerechtes Inserieren der Schraube nur durch einen zentriert ausgerichteten Imbusschlüssel erfolgt, der anatomisch korrekt jedoch in der Höhe des ersten Molaren platziert wird. Hier befindet sich sich jedoch ausgerechnet der empfindliche Mundwinkel. Drehungen des Imbusschlüssels führten regelmäßig zu Irritationen im Bereich des Mundwinkels.
Heute: Befestigung mit schraubenloser Verbindung
Herbst Scharnier locker?
Löst sich jedoch das Grundgerüst des Herbst Scharnieres vom Zahn ist die kieferorthopädische Praxis aufzusuchen, um es erneut zu zementieren.
Die beweglichen Teile sind einerseits an der Stützstruktur im Oberkiefer mittels Kugelkopfgelenk, andererseits an einer weiteren Stützstruktur im Unterkiefer im Bereich des Eckzahnes mittels snap Verbindung befestigt. Ein Gerüst ist notwendig, um die Kraft der muskulären Vorspannung mittels Teleskopen auf Ober- und Unterkiefer zu übertragen.
Herbstscharnier Gerüststruktur im Oberkiefer
Im Oberkiefer sind nur die ersten Molaren an der Gerüststruktur beteiligt. Ersten reichen sie als alleinige Befestigung aus, zweitens führt die Muskelvorspannung und die daraus resultierende Kraft zu einer Distalisation (Bewegung nach hinten) und Tipping (Neigung) des Molaren. Distalisation ist erwünscht, Tipping jedoch unerwünscht. Deswegen ist beim Oberkieferband eine Befestigung (Slot) für den Drahtbogen des festsitzenden Zahnspange inkludiert. Der erfahrene Kieferorthopäde kann dadurch ein unerwünschtes Tipping des Oberkiefermolaren hintanhalten.
Retentionen (Aussparungen) in der Gerüststruktur
Im Gerüst der Oberkieferbänder werden Aussparungen (Retentionen) vorgenommen, die die chemische Klebekraft verstärken. Durch zusätzlichen mechanischen Halt ist das Band am ersten Molar im Oberkiefer gut fixiert.
Abziehrampen
Nach der Behandlungszeit wird das Herstscharnier mit all seinen Teilen von der Zahnoberfläche entfernt. Dazu wird es vom Zahn möglichst schonend abgezogen. Ein Teil der Zange stützt sich auf der Kaufläche des Backenzahnes ab, der andere Teil der Zange hat einen festen Sitz an einer der definierten Abziehrampen. Eine schonende und schmerzlose Entfernung müsste möglich sein. Anschließend wird noch der restliche Kleber entfernt und die Zahnoberfläche gereinigt und poliert.
Herbstscharnier Gerüststruktur im Unterkiefer
Herbst Scharnier kaputt:
Im Falle eines Bruches der Stützstruktur bitte die kieferorthopädische Praxis verständigen.
Separierringe
Um vor und hinter (mesial und distal) des oberen ersten Molaren ausreichend Platz zum Setzen des Bandes zu schaffen ist es notwendig, runde Separiergummis zu setzen. Diese werden mit einer speziellen Zange über den vorderen und hinteren Kontaktpunkt gezogen und dort für 1 Woche belassen. An der gesetzten Stelle wird der Patient angehalten für eine Woche auf die Zahnseide zu verzichten.
Geht ein Separrierring vorzeitig verloren, besteht ausreichend Platz. Er muss nicht neuerlich eingesetzt werden. Wird am Tag des Einsetzen des Herbstscharnieres jedoch bemerkt, daß zuwenig Platz für das Band besteht, kann noch für 10 Minuten ein Separierring eingesetzt werden.
Es kam desweiteren oft zu unkontrollierten Schraubenverlusten infolge einer Lockerung des Schraubensitzes. Der vielleicht wichtigste Punkt, der gegen diese Art der Befestigung spricht, ist die Tatsache, dass ein achsengerechtes Inserieren der Schraube nur durch einen zentriert ausgerichteten Imbusschlüssel erfolgt, der anatomisch korrekt jedoch in der Höhe des ersten Molaren platziert wird. Hier befindet sich sich jedoch ausgerechnet der empfindliche Mundwinkel. Drehungen des Imbusschlüssels führten regelmäßig zu Irritationen im Bereich des Mundwinkels.
Setzen des Herbstscharnieres
Beim Einsetzen werden die Zahnoberflächen gereinigt. Das Herbstscharnier wird mittels bläulich eingefärbtem Zement auf die Zahnoberflächen geklebt. Dies ist nach der Herbstscharnierbehandlung von Vorteil, da sich der gefärbte Zement deutlich von der Schmelzoberfläche abhebt und besser erkennbar und entfernbar ist.
Deswegen wird in heutigen modernen Herbstscharnieren auf Schrauben weitgehend verzichtet und eine Verbindung zwischen Teleskop und Band gewählt, die den meisten Bewegungsgrad ermöglicht.
Im Unterkiefer ist die U-Form der Struktur von entscheidender Bedeutung, denn im Moment der Vorverlagerung des Unterkiefers wirken entgegengesetzte Kräfte einerseits nach unten vorn, andererseits nach oben hinten. Durch den lingualen Bügel wirkt die nach vorne gerichtete Kraft nicht auf die mandibulären Frontzähne, sondern teilt sich auf sämtliche Unterkieferzähne auf, was zu einer geringeren Frontzahnachsennneigung nach vorne führt.
Bei der Aktivierung des Herbst Scharnieres wandert der Kondylus (Kieferköpfchen) in eine anterore Position. Als Zeichen einer Reaktion des Wachstumszentrum zeigt sich nach 12 Wochen permanente Tragezeit eine retrale Position (gelber Kreis) des Discus Kondylus Paktetes. Diese bleibt dann bis Behandlungsende (7 Monate) bestehen.
Abgesehen von oben beschriebenem Spannungsgefühl zeigen sich keine nennenswerten Schmerzen. Bei störenden Rauhigkeiten an den Oberflächen des Herbst Scharnieres können jedoch Irritationen an der Wangenschleimhaut entstehen. In diesem Fall ist die Hilfe des Kieferorthopäden nötig. Er glättet die entsprechenden Stellen an der Apparatur. Tinkturen und Salben helfen nicht.
Die Behandlungszeit ist in der Regel 7 Monate. In dieser Zeit sind die Oberkiefermolaren distalisiert, d.h. nach hinten gewandert, die Unterkieferzähne und das Unterkiefer sind nach vorne gewandert. Diese Behandlungszeit sollte unbedingt eingehalten werden, da die Kiefergelenkspfanne diese Zeit benötigt, um sich an die neue Gelenkssituation zu gewöhnen.
Früher wurden Herbst Scharniere im Gussverfahren hergestellt.
Heute im Zeitalter der digitalen Kieferorthopädie werden die Herbst Scharniere individuell designed und per selektivem Lasersinterverfahren, ähnlich einem 3D Druckverfahren, mit höchster Präzision in kürzester Zeit hergestellt.
Zwischen Intraoralem Scan und Einsetzen des Herbst Scharnieres liegen 3 Werktage.
digitaler Herstellungsprozess
Moderne kieferorthopädische Apparaturen werden nach individuellen Oberflächendaten hergestellt. Diese (.stl) Daten gewinnt der Kieferorthopäde durch intraorales Scannen der Zahn- und Gaumenoberflächen.
intraorales Scannen
postprocessing
Herstellung im SLS Verfahren
Das designte Herbstscharnier wird nun per mail an die eigentliche Produktionsstätte (Fräs- und Sinterzentrum) exportiert. Dort wird ähnlich einem 3D Drucker schichtweise Metallpulver mittels Laserstrahl aufgeschmolzen.
Ausarbeitung im KFO Labor
Fertig gesintert erhält das Labor am nächsten Tag das Herbst Scharnier als Rohprodukt. Dieses muss erst noch an der Oberfläche vergütet, ausgearbeitet, geglättet und poliert werden.
Bewegliche Teile
Sleeve und Rod werden bereits in unterschiedlichen Längen vorkonfektioniert,um für jeden Patienten die entsprechende Positionierung des Unterkiefers zu ermöglichen.
Die Behandlung mit der Herbstapparatur wird von Seiten unserer Patienten als überaus positiv beurteilt. Nach einigen Tagen Eingewöhnungsphase ist die Behandlung mit dieser Klasse II Mechanik sowohl kosmetisch als auch subjektiv kaum mehr störend.
In unserer kieferorthopädischen Praxis werden jedes Jahr 400 PatientInnen zwischen 9 und 30 Jahren mit dem Herbstscharnier behandelt. Immer wieder jedoch gibt es auch PatientInnen, die das Herbst Scharnier grundsätzlich ablehnen.
Eine genaue, ehrliche und sachliche Information über alle Einzelheiten der Behandlung ist deswegen zwingend erforderlich.
In den ersten Tagen nach Einsetzen des Herbst Scharnieres ist das Kauen im Backenzahnbereich schwierig, da sich die Backenzähne nicht berühren, das wird nach einigen Wochen deutlich besser.
In der Regel essen Kinder nach 1 Woche wieder normal.
Von allzu harter Nahrung sollte Abstand genommen werden.
Bei schwerwiegenden Fällen von Unterkieferrücklage kann das Herbst Scharnier leider nicht immer eine gute Behandlungsalternative darstellen. In diesen Fällen muss orthognath, d.h. kieferchirurgisch der Unterkiefer oder manchmal auch der Unter und der Oberkiefer zueinander in Relarion gebracht werden. Dies geschieht jedoch in Allgemeinnarkose.
Bei Kindern und Jugendlichen jedoch kann man mit einem zeitgerechten Behandlungsbeginn durchaus auch bei schwerwiegenden Fällen spätere Operationen vermeiden!
Die Behandlung mit Herbst Scharnieren ist bei moderaten bis zu schweren Rückbisslagefehlstellungen des Unterkiefers bei Kindern und Jugendlichen die Behandlung der Wahl.
Extreme Wachstumsformen bedürfen anderer Behandlungsstrategien:
Alternativen zum Herbst Scharnier stellen unter anderem auch folgende Apparaturen dar:
- Ist wie der Name schon verrät eine Federmechanik, die ebenfalls wie der Jasper Jumper gemeinsam mit der festsitzenden kieferorthopädischen Apparatur verwendet wird. Gleiche Nachteile wie oben beschrieben, kostengünstige Alternative, Stangenware.
- eine Vielzahl funktionskieferorthopädischer Apparature sind im deutschsprachigen Raum zur Früh- und Erwachsenenbehandlung immer noch in Verwendung.
- Fazit: kostengünstig, mitarbeitsabhängig, sollten 24 h getragen werden, werden jedoch nur zu ca. 50% abhängig vom Patientengut überhaupt verwendet (Compliance). weniger effizient als Herbstscharniere
- bekannte Namen von abnehmbaren Klasse II Apparaturen:
- Hansa, Fränkel Funktionsregler, Bionator, Aktivator, Vorschubdoppelplatte, Twin block
Die Behandlung mit Herbst Scharnieren ist bei moderaten bis zu schweren Rückbisslagefehlstellungen des Unterkiefers bei Kindern und Jugendlichen die Behandlung der Wahl.
Extreme Wachstumsformen bedürfen anderer Behandlungsstrategien:
Der Nachteil der Herbst Scharnier Behandlung ist zugleich einer der größten Vorteile des Herbst Scharnieres – Das festsitzende Bekleben der Apparatur und somit auch die Mitarbeitsunabhängikeit der Behandlung. Dies wird von manchen Patienten, oftmals Erwachsene als Einschränkung der Lebensqualität erlebt.
Die Behandlung mit Herbst Scharnieren ist bei moderaten bis zu schweren Rückbisslagefehlstellungen des Unterkiefers bei Kindern und Jugendlichen die Behandlung der Wahl.
Die alleinigen Herstellungskosten eines Herbst Scharnieres betragen zwischen 300€ und 600€, je nach kieferorthopädischem Fachlabor. Diese Kosten übernimmt zuerst der kieferorthopädische Behandler und verrechnet diese dem Patienten weiter.
Unterschiede bestehen im Herstellungsverfahren, gewählten Material und in der Ausarbeitung dessen.